Gedankenexperiment: Ein Flugzeug, ein Terrorist, eine Entscheidung
Ein Passagierflugzeug mit 164 unschuldigen Menschen an Bord wird von einem Terroristen entführt. Der Entführer hat Kurs auf ein vollbesetztes Fußballstadion genommen, wo er mit dem Flugzeug eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes herbeiführen will. In diesem Stadion befinden sich 70.000 Menschen. In dieser extremen Situation muss ein verantwortlicher Entscheidungsträger eine unvorstellbare Wahl treffen: Soll das Flugzeug abgeschossen werden, um das Leben der 70.000 Menschen im Stadion zu retten, oder dürfen die 164 Passagiere nicht geopfert werden, selbst wenn dies bedeutet, dass viele mehr ihr Leben verlieren? „Terror“ von Ferdinand von Schirach.
Diese Frage führt mitten in das Herz des sogenannten „übergesetzlichen Notstands“ und stellt ethische und juristische Dilemmata in den Fokus, die das Fundament unserer Gesellschaft infrage stellen.
Das Luftsicherheitsgesetz von 2005 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Am 11. Januar 2005 trat in Deutschland das Luftsicherheitsgesetz in Kraft, welches es den Streitkräften erlaubte, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, um eine größere Katastrophe zu verhindern. Bereits ein Jahr später, am 15. Februar 2006, erklärte das Bundesverfassungsgericht diesen Teil des Gesetzes für verfassungswidrig. Die Begründung lautete, dass es gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstoße. Jeder Mensch habe einen unveräußerlichen Eigenwert, und niemand dürfe zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden, auch nicht in einer Extremsituation.
„Menschen sind keine Gegenstände, ihr Leben ist nicht in Zahlen zu messen, sie unterliegen nicht den Gesetzen eines Marktes.“
Utilitarismus vs. Kants kategorischer Imperativ
Die Frage, ob das Flugzeug abgeschossen werden darf, lässt sich auf zwei wesentliche ethische Theorien zurückführen: den Utilitarismus und Immanuel Kants kategorischer Imperativ.
Utilitarismus
Der Utilitarismus, eine Ethiktheorie, die vor allem mit Philosophen wie Jeremy Bentham und John Stuart Mill verbunden ist, argumentiert, dass die moralisch richtige Handlung jene sei, die das größte Glück für die größte Anzahl von Menschen bewirkt. In diesem Gedankenexperiment würde ein Utilitarist vermutlich dafür plädieren, das Flugzeug abzuschießen, um das Leben der vielen Menschen im Stadion zu retten, selbst wenn dies den Tod der Passagiere zur Folge hätte. Der utilitaristische Ansatz bewertet die Konsequenzen der Handlung und strebt danach, das größtmögliche Wohl zu erreichen.
Kants kategorischer Imperativ
Immanuel Kants kategorischer Imperativ hingegen fordert in seiner Selbstzweckformel, dass Menschen niemals bloß als Mittel zum Zweck behandelt werden dürfen, sondern immer auch als Zweck an sich gesehen werden müssen. Nach Kant darf kein Mensch geopfert werden, auch nicht, um andere zu retten. Jeder Mensch hat eine unveräußerliche Würde, die respektiert werden muss. Ein Abschuss des Flugzeugs wäre somit nach Kant nicht zu rechtfertigen, da die Passagiere zu reinen Objekten einer Kosten-Nutzen-Abwägung degradiert würden.
Das Dilemma im Licht der Realität
Unsere Verfassung fungiert als stabiles Regelwerk, das die Menschenwürde sichert und verhindert, dass ein Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht wird. Dies steht im Gegensatz zu moralischen Überlegungen, Gewissensentscheidungen, gesundem Menschenverstand, Naturrecht oder dem übergesetzlichen Notstand, die allesamt schwankende Begriffe sind. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat die fundamentale Bedeutung der Menschenwürde betont und klargestellt, dass der Staat nicht die Macht hat, über das Leben einzelner Menschen zu verfügen, selbst wenn dies zur Rettung vieler anderer beitragen könnte. Dies mag auf den ersten Blick unbefriedigend erscheinen, aber es bewahrt die Prinzipien unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
„Und deshalb sind Gesetze, auch wenn sie manchen von uns unmoralisch und falsch vorkommen, trotzdem gültig.“
Empfehlung: „Terror“ von Ferdinand von Schirach
Wer sich tiefer mit diesen Fragen auseinandersetzen möchte, dem sei das Werk „Terror“ von Ferdinand von Schirach empfohlen. In diesem Theaterstück wird die Geschichte eines Bundeswehrpiloten erzählt, der genau in diese Entscheidungssituation gerät: ob ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden soll, um viele Menschenleben zu retten. Das Publikum fungiert dabei als Gericht und muss letztlich darüber urteilen, ob der Pilot schuldig ist oder nicht. „Terror“ stellt eindrucksvoll die moralischen und rechtlichen Konflikte dar und bietet einen intensiven Einblick in die schwierigen Entscheidungen, die in Extremsituationen getroffen werden müssen. „Terror“ von Ferdinand von Schirach.
Der übergesetzliche Notstand bleibt ein extrem kontroverses und komplexes Thema, das dazu zwingt, über die Grundprinzipien unserer Gesellschaft nachzudenken. Die Frage bleibt, ob ethische und juristische Überzeugungen in Krisensituationen gewahrt werden sollen oder ob es Situationen gibt, in denen das Wohl vieler über die Rechte des Einzelnen gestellt werden darf. Diese Fragen sind von höchster Relevanz und verdienen eine tiefgründige Reflexion.
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